Carolin Engwert

Carolin Engwert © Carolin Engwert

„Ich halte mich für eine umsichtige und defensive Radfahrerin, die nie auf ihre Vorfahrt besteht – besonders auch, da ich einige Jahre meine Kinder im Fahrradanhänger transportiert und mir damals einen entsprechenden Fahrstil angewöhnt habe. Aktiv hatte ich mich nie gegen den Helm entschieden, ich hatte mir einfach aus Unwissenheit keinen gekauft.
Nun gehöre ich zu den wenigen Menschen, die nach einem Unfall dieser Schwere darüber sprechen und schreiben können. Es ist mir daher ein großes Anliegen, dafür zu sensibilisieren und zum freiwilligen Helmtragen zu ermuntern.
Denn mit Helm wäre meine Kopfverletzung wahrscheinlich weniger schwer ausgefallen.

 

Anfang Mai 2019 steckte ich gerade in den letzten Zügen für mein erstes Gartenbuch, als ich an einem Dienstagnachmittag mit dem Rad vom Büro nach Hause gefahren – und leider erst knapp drei Wochen später auf der Intensivstation wieder aufgewacht bin.
Der genaue Unfallhergang wird wohl ungeklärt bleiben, da ich mich selbst nicht erinnere, die Polizei keinen Augenzeugen ermittelt hat und die Versicherung der mich überholenden Autofahrerin nur eine Teilschuld einräumen wollte. Darüber könnte man nun wahnsinnig enttäuscht sein – mir reicht die Gewissheit, dass ich an einem trockenen Tag bei Tageslicht bestimmt nicht ohne Fremdverschulden der beteiligten Verkehrsteilnehmerin über den Lenker gefallen bin.
Ich hatte unendliches Glück, den unbehelmten Unfall überhaupt zu überleben.

Durch den Sturz auf den Kopf habe ich einen Schädelbruch mit Gehirnblutung erlitten, aus der meist zusätzlich eine Gehirnschwellung resultiert. Die Notfallmediziner haben mich daher in eine Langzeitnarkose (auch bekannt als „künstliches Koma“) gelegt, da durch die tiefe Sedierung die Schwellung schneller abklingt und somit der Hirndruck gesenkt werden kann. Das ist soweit gut gelungen und hat die weitere Schädigung von Hirnzellen verhindert. Ich bin sehr beeindruckt, welche Mittel unsere moderne Medizin mittlerweile bereithält!
Leider ist es jedoch nicht wie im Film, dass der Patient lächelnd aufwacht und kurz darauf „gesund“ nach Hause geht. Nach einem künstlichen Koma muss man Vieles neu lernen, nicht unbedingt nur auf Grund geschädigter Hirnregionen, sondern weil der Kopf auch eine ganze Weile braucht, bis er wieder auf Touren kommt und der Körper in der Zwischenzeit wichtige Muskeln abbaut, die z.B. dafür sorgen, dass wir stabil stehen und gehen können. Ich habe in den zwei Wochen „Tiefschlaf“ 15 kg Körpergewicht verloren – leider eben nicht nur da, wo man sich das wünschen würde.

Nach der Akutphase auf der Intensivstation war ich noch viele Wochen stationär zur Reha. Anfangs hatte ich eine recht schwere Zeit und war sehr dankbar für eine ältere Mitpatientin, die mich immer wieder ermuntert hat, mich nicht hängen zu lassen und den Ärzten sowie meinen Selbstheilungskräften zu vertrauen. Stichwort Ärzte: Ich bin froh, dass die Neurologin auf der Station sehr empathisch auf meine Ängste reagiert hat, denn nach einer Kopfverletzung muss man sich ggf. erst schrittweise an sein neues Ich gewöhnen. Heute begleitet mich eine Neuropsychologin ambulant auf diesem Weg.
Meine Familie sowie die grüne Community bei Instagram und die Herausforderung, das bereits 2018 begonnene Buch abzuschließen, haben mir sehr viel Halt gegeben und mich gut durch die dunklen Momente getragen. Als ich das Krankenhaus zum ersten Mal für einen Tag verlassen durfte, habe ich mir auch zuerst einen Besuch in meinem Schrebergarten gewünscht. Einige Zeit später habe ich dann von einer Bekannten erfahren, dass es tatsächlich Gartentherapeuten gibt – z.B. Andreas Niepel, der in Hattingen mit Neurologie-Patienten arbeitet. Die therapeutische Form des Sich-Erdens scheint bei mir schon per „default“ vorhanden zu sein und ich habe sehr viel Kraft aus den Stunden im Garten geschöpft.
Weiter hatte ich das große Glück, dass sich meine Freundinnen während meines Krankenhausaufenthalts und auch danach mehrere Monate liebevoll mit um meine Kinder gekümmert haben. Dafür werde ich ihnen immer dankbar sein!

„Na, ist jetzt alles wieder gut?“ – Diese Frage wird mir wirklich häufig gestellt und ich beantworte sie so: „Ich kann damit leben, aber so wie früher wird es wohl nie wieder.“
Ein Freund meinte letztes Jahr sehr treffend zu mir: „Du hast jetzt eben Bewusstseins-gepäck.“ Ich verstehe die Veränderung durch den Unfall seitdem nicht mehr nur als Ballast, sondern versuche auch, sie als Erfahrungsschatz anzunehmen, der mir vielleicht auch irgendwann etwas nützen kann.
Gehirnverletzungen sind schwer zu verstehen und auch schwer zu vermitteln und ich habe mir früher auch nie darüber Gedanken gemacht. Eigentlich wird einem auch erst klar, wie komplex das Gehirn arbeitet, wenn etwas nicht (mehr) stimmt. In meinem Fall z.B.: Ich bin schneller erschöpft, weine öfter, bin schlechter organisiert und es fällt mir schwerer einzuschätzen, welches Pensum ich schaffen kann und wie ich Dinge zu Ende bringe. Ich fasse das gerne zusammen als „meine interne Sekretärin ist auf unbestimmte Zeit im Urlaub“.

So ein Unfall ist übrigens nebenbei auch ein Crashkurs in Demut und Gelassenheit. Für die Erkenntnis, dass die Welt nicht zusammenbricht, auch wenn man mal ein paar Wochen nichts tut (also wirklich gar nichts – noch nicht einmal selbst atmen!) – besuchen manche Menschen sogar jahrelang Yogaseminare oder Schweige-Retreats ...

Das Leben ist seit dem Unfall definitiv ganz anders, aber ich blicke zuversichtlich und vertrauensvoll in die Zukunft – den Lesern dieses Textes wünsche ich allzeit sichere Fahrt!

Gut zu wissen ...

  • Neurochirurgen sind keine Hipster-Frisöre – wer also beim Helmtragen Angst um seine Frisur hat, den kann ich aus eigener Erfahrung nur ermuntern, sich das nochmal ganz genau zu überlegen!
  • Ohrchirurgen sind sowas wie die Uhrmacher unter den Ärzten – ein 2,5 mm großes Titanstückchen ersetzt nun jedenfalls meinen beim Unfall beschädigten Amboss im linken Ohr.

Carolin Engwert (43), Grafikdesignerin und Gartenbuchautorin aus Berlin,

lebt seit 2009 in Berlin Friedrichshain, arbeitet in Teilzeit bei einem Healthcare-Unternehmen als Visual Designerin, bloggt auf www.hauptstadtgarten.de aus ihrem Berliner Schrebergarten und ist weitestgehend per Rad mobil.

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